Ich fand dieses alte Photoalbum im Sommer 2010 in einem Antiquariat in Halle/Saale. Ich war gerade mit einem Shooting für meine Serie „Erinnerung“ fertig, und hatte wohl deshalb Interesse an dem Album. Es paßte zu dem Thema, das mich schon seit einiger Zeit beschäftigte und zu dem ich, parallel zu den Photoarbeiten, auch viele Texte geschrieben hatte. Irgendwie fand ich es bedrückend und traurig, daß diese Sammlung von Erinnerungen dort gelandet war, und ich überlegte, woran das gelegen haben konnte: War niemand aus der Familie des Besitzers mehr da, der es hätte an sich nehmen können, hatte keiner mehr Interesse daran, hatte es der Besitzer womöglich selbst dort hingebracht, um vergessen zu können? Es erschien mir wie eine familiäre Erinnerungsspur, die ins Leere gelaufen war, die sich irgendwo in einer unbestimmten Erinnerungslosigkeit verlief. Ich blätterte flüchtig und gedankenverloren in dem Album und kaufte es dann kurzentschlossen. Ein paar Tage später – ich war wieder in Berlin – erinnerte ich mich des Albums und nahm es mir erneut vor. Diesmal beschaute ich mir alles ganz genau. Dabei fielen mir zwei Sachen auf. Die erste war, daß auf fast allen Photographien immer wieder nur zwei junge Frauen zu sehen waren. Es war ein Erinnerungsbuch, das sich – bis auf wenige Ausnahmen – durch eine fast vollständige Abwesenheit der Männer auszeichnete. Ich begann einige Photos herauszunehmen und nachzuschauen, ob auf den Rückseiten etwas vermerkt war. Das stellte sich als erhellende Handlung heraus: Tatsächlich waren fast alle Photographien rückwärtig beschriftet. Es waren Notizen zu den Orten, Namen von abgebildeten Personen, teilweise kurze tagebuchartige Kommentare und: Jahreszahlen. So stellte sich schnell heraus, daß das Photoalbum den Zeitraum von 1943 bis 1944 umfaßte und Wandertouren/-urlaube zweier Freundinnen in den deutschen Alpen dokumentierte. Das erklärte einerseits die Abwesenheit der Männer – es war Kriegszeit, viele waren zum Militärdienst eingezogen – andererseits bekam ich dadurch das Gefühl, daß es sich um eine bereinigte Erinnerung handelte. Die Kriegsrealität: der Notstand, das Leid und der Hunger waren vollkommen ausgeblendet. Das Album zeigte eine heile Welt; begeistert war auf der Rückseite einiger Photographien der erlesene Speiseplan von Feriendomizilen vermerkt. Die zweite Sache, die mir beim genaueren Hinsehen auffiel, war, daß ich viele der Bergmotive sehr genau erinnerte, obwohl mein Gedächtnis mich sonst oftmals schon nach ein paar Wochen im Stich läßt. Auch das erklärte sich schnell mit den Notizen auf den Photorückseiten: Die beiden jungen Frauen hatten damals fast exakt die gleichen Wanderungen unternommen, die ich, zwei Wochen bevor ich ihr Album gefunden hatte, mit meinem Vater in den Alpen unternommen hatte. Es war ein sonderbarer Zufall und ich hatte das Gefühl, daß sich zwei Erinnerungsspuren – obwohl viele Jahre dazwischen lagen – getroffen hatten. Ich bekam Lust, in diesem Prozeß der späten Durchdringung von Erinnerung und Vergessen, Verlust und Wiederfinden einzugreifen. Ich wollte die verlorene Erinnerungsspur der Frauen mit meiner eigenen vermischen. Den ersten Schritt in diese Richtung hatte ich mit dem Herausnehmen einzelner Photographien zum Zweck der Informationsgewinnung schon getan. Dann aber wurde es ein bewußter und auch – so dachte ich anfangs – brachialer Eingriff: Ich begann, das Album teilweise zu dekonstruieren und wieder neu zu konstruieren. Ich entfernte einzelne Photographien komplett, gestaltete die Anordnung neu, teilweise leerte ich ganze Seiten, fügte Bilder auf die Rückseite gedreht wieder ein, um die Notizen sichtbar zu machen, ich kombinierte Originalphotos aus dem Album mit Digitalprints von meinem Alpenurlaub und Arbeitsabzügen und Probephotos von meinem Shooting in Halle, beschnitt einzelne Originalphotos oder manipulierte sie und schrieb Fragmente von Erinnerungs-Texten, die zu dieser Zeit entstanden waren, mit weißem Stift auf einige Albumseiten. Ich wollte herausfinden, ob ich dazu imstande war und wie weit ich das ohne schlechtes Gewissen treiben kann, vor allem aber, welche Wirkung es auf mich haben würde. Bis auf den ersten Moment fiel es mir erstaunlich leicht, weil ich merkte, daß Erinnerung immer lügt, daß sie nur eine Konstruktion ist. Ich wollte zeigen – vielleicht nur mir – daß sie einen immensen Spielraum hat. Und damit meine ich Deutungen, Vermutungen und eben Konstruktionen. Wirklich konkret erinnern aber, und mit gesicherter Detailtreue der Vergangenheit, wird der Großteil der Menschen nur die bitteren Erlebnisse, welche Erfahrungen darstellen, die Entwicklung und Überleben verursachen und gewährleisten. Ganz im Sinne eines Ausspruches der österreichischen Lyrikerin Ilse Aichinger, den ich in eben jenem Urlaub, auf eine Fensterscheibe geschrieben, entdeckte: „Sich erinnern: Sich und das Erinnerte für das Vergessen bereit machen.“
Vinzenz Fengler, 2013